Inklusion

Beratung ohne Worte

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Berlin -

Für Apothekerin Karin Simonitsch beschränkt sich Barrierefreiheit nicht nur darauf, den Eingang der Apotheke rollstuhlfahrerfreundlich umzubauen. Deshalb engagiert sie sich seit Jahren für gehörlose Menschen und will ihnen den Zugang zum Gesundheitssystem erleichtern. Die Pharmazeutin zeigt, dass Inklusion im medizinischen Bereich funktionieren kann, und dass sich soziales Engagement und wirtschaftliches Denken nicht ausschließen.

Barrierefreie Kommunikation ist in akuten Krankheitsfällen unabdingbar und oft überlebenswichtig. Für gehörlose und schwerhörige Patienten gestaltet sich diese Kommunikation jedoch schwierig, wenn medizinisches Fachpersonal die Gebärdensprache nicht beherrscht oder kein Gebärdensprachdolmetscher zur Verfügung steht. „Ein Albtraum. Krank und verletzt und dann nicht richtig kommunizieren können,“ sagt Karin Simonitsch, die in Wien die Marien-Apotheke in dritter Generation betreibt. Gerade in akuten Situationen und Notfällen zähle jede Information und reibungslose Verständigung.

In Wien gebe es nur eine Ambulanz – die der Barmherzigen Brüder –, die etwa gehörlose und schwerhörige Unfallopfer gut versorgen könne. Gerade im medizinischen Sektor gibt es noch viel zu tun, damit Menschen mit Behinderungen Zugang finden und sich verständigen können. Deshalb sei es für Gehörlose schwierig, sich im „Dschungel des Gesundheitssystems“ zurechtzufinden. „Um die 10.000 gehörlosen Menschen in Österreich adäquat zu betreuen, wären mindestens 40 gehörlose Ärzte nötig. Doch wo gibt es die?“, fragt Simonitsch.

Bereits jetzt ist die Apotheke für viele Gehörlose der erste und oft einzige Kontaktpunkt zum medizinischen System. „Die Marien-Apotheke hat sich in den letzten Jahren zur Anlaufstelle für Gehörlose entwickelt“, sagt Simonitsch. Als nächstes Projekt denkt sie deshalb einen Gesundheitswegweiser an – etwa in Form von Beratung über eine Handy-App. Es werde geschätzt, dass etwa 6000 Menschen in Wien bei ihrer Kommunikation auf Beobachtung, Schrift und vor allem Gebärdensprache angewiesen sind, da sie entweder kein Gehör oder ein äußerst eingeschränktes Hörvermögen haben.

Heute berät die Apothekerin nicht nur ihre Kunden in Gebärdensprache, sondern beschäftigt auch drei gehörlose Mitarbeiter. „Es hat mit einer b´soffenen G´schicht 2007 begonnen“, schildert sie, wie es dazu gekommen ist. „Ein Bekannter meines Mannes hat mich bei einem Glas Wein gefragt, ob ich seinen gehörlosen Sohn ausbilden könne.“ Die Eltern, ein Musikerpaar, machten sich Sorgen um die Zukunft des Teenagers.

Doch der Start war mehr als holprig. Zunächst galt es, einen neuen, ganz eigenen Ablauf für die Lehre zu entwickeln. Schließlich können Gehörlose nicht so einfach in die Berufsschule gehen. David hatte es jedoch besonders schwer, weil er die Gebärdensprache nur rudimentär beherrschte. Und auch logopädische Behandlungen verhalfen ihm nicht zu einer deutlichen Lautaussprache. Trotz aller Hindernisse bestand der David drei Jahre später seine Lehrabschlussprüfung mit Auszeichnung und ist somit der erste gehörlose pharmazeutisch-kaufmännische Assistent in der Geschichte der österreichischen Pharmazie. Noch heute gehört er zum Team der Marien-Apotheke.

Heute sind drei ihrer insgesamt 45 Mitarbeiter gehörlos, darunter Sreco Dolanc aus Slowenien, den laut Simonitsch ersten gehörlosen Apotheker Europas. Gebärden mussten auch die Mitarbeiter der Apothekenleiterin lernen. Deshalb wurde mit der Einstellung von David ein Kurs in Gebärdensprache begonnen. Die Kollegen seien auch von Beginn an von dem Plan, gehörlose Lehrlinge auszubilden, begeistert gewesen: „Die drei sind eine Bereicherung für das Team und für unsere Kunden“, so die Pharmazeutin. Denn mit den besondere Angeboten habe sie natürlich auch viele zusätzliche Kunden für die Apotheke gewonnen. Sobald der gehörlose Apotheker Dolanc seine Arbeit in der Marien-Apotheke begonnen hatte, hat Simonitsch angefangen, verstärkt auf gehörlose Kunden zuzugehen.

Seit Sommer 2014 will man mit selbst produzierten Info-Videos gezielt Gehörlose ansprechen und präventiv mit Informationen rund um das Thema Gesundheit versorgen. In den Videos wird in Gebärdensprache beispielsweise der Unterschied zwischen Grippe und grippalem Infekt erklärt oder auch Informationen zum richtigen Sonnenschutz oder auch zu Geschlechtskrankheiten vermittelt. Seit Anfang 2015 bietet die Marien-Apotheke auch einen zweisprachigen Newsletter an: „Jedes Thema kann nun auch als Video in Österreichischer Gebärdensprache angesehen werden. Ein Link führt dabei direkt vom Newsletter zum Video mit unserem gehörlosen Apotheker Sreco Dolan“, berichtet Simonitsch.

Darüber hinaus versuche man persönlich mit Gehörlosen in Kontakt zu kommen, um hier vor allem die ältere Generation anzusprechen. In Zusammenarbeit mit dem WITAF, dem Wiener Taubstummen-Fürsorge-Verband, tritt man regelmäßig bei Vorträgen auf, versucht Ängste zu nehmen und Informationsmängel zu beheben. „Die Resonanz zeigt, dass der Bedarf dafür mehr als gegeben ist“, sagt Simonitsch.

Ein weiteres Projekt der Apothekerin startet in wenigen Tagen: der Klub für gehörlose Senioren im Haus Mariahilf. An jedem Samstagvormittag sollen Aktivitäten angeboten werden, die speziell auf die Bedürfnisse von Gehörlosen zugeschnitten sind. „Es hört sich nicht spektakulär an“, meint Simonitsch. „Doch nur hier, im Kleinen, kann ich tatsächlich etwas verändern“.

Doch nicht nur für Gehörlose ist die Marien-Apotheke eine feste Anlaufstelle. Schon früh spezialisierte sich die Apotheke auf Betreuung von HIV- und AIDS-Patienten. 1994 beschloss Simonitsch, Medikamente für HIV-Kranke bereitzustellen. Nachdem eine Infektion mit HIV längst kein Todesurteil mehr ist, es bei der medikamentösen Behandlung der nun chronischen Erkrankung aber viel zu beachten gibt, ist gute Beratung gefragt.

„Das Thema hat mich genauso wie das Engagement für Gehörlose irgendwie gefunden“, erzählt Simonitsch. Damals hat sie gerade begonnen, in der Familienapotheke zu arbeiten. Eines Tages im Jahr 1994 habe sie ein Kunde angesprochen und erzählt, dass sein Partner Aids habe und Medikamente benötige. Sie bestellte die Medikamente und brachte sie sogar persönlich vorbei. Einen Monat lang habe sie das Paar besucht. Sie brachte die Medikamente und Lebensmittel, hielt Wache am Krankenbett und hörte sich die Lebensgeschichte der beiden an.

Jeden Tag sei sie vorbeigekommen, bis der Mann verstarb. „In der Community hatte sich dann herumgesprochen, dass man in der Marienapotheke gut betreut wird“, sagt sie heute. Der Rest sei Geschichte. Immer mehr HIV-Kranke pilgerten in die Apotheke von Simonitsch, weil sie von der jungen Apothekerin erfahren haben, die sie ohne Vorurteile betreuen würde. Mittlerweile ist die Marien-Apotheke ein fester Teil der Versorgungsinfrastruktur für HIV- und AIDS-Patienten in Wien.

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